Standpunkt: Letzte Chance für eine Verkehrswende
Die Strasseninfrastruktur, die im letzten Jahrhundert quer durch die Alpen gebaut wurde, bröckelt. Am Brenner, Fréjus, Gotthard oder am Col de Tende wird die Sanierung als Vorwand gebraucht, um neue Strassentunnel zu graben und zusätzliche Spuren zu bauen. Die Folge: Das Strassenangebot wird in den kommenden Jahren massiv ausgeweitet. Wenn die Alpenländer verhindern wollen, dass die Alpen in naher Zukunft vom Verkehr überrollt werden, müssen sie endlich beginnen, die Nachfrage zu steuern, meint Manuel Herrmann, Geschäftsführer von CIPRA Schweiz und Vizepräsident der Organisation Pro Alps.
Die Schweiz hat in den «goldenen Jahren» der Verlagerungspolitik gezeigt, wie Verkehrslenkung funktioniert: Zuerst wurde 1994 mit der Annahme der Alpeninitiative eine klare Zielvorgabe auf Verfassungsebene geschaffen. Dann folgte eine Palette von Massnahmen: die leistungsabhängige Schwerverkehrsabgabe (LSVA), gezielte Förderung des Schienengüterverkehrs und konsequente Kontrollen auf der Strasse. Ab dem Jahr 2000 gingen die Lastwagenfahrten durch die Schweizer Alpen stetig zurück.
Doch das Schweizer Beispiel zeigt auch, wie fragil solche Fortschritte sind. Trotz milliardenschwerer Basistunnels ist die Qualität des Schienengüterverkehrs unterirdisch. Die LSVA wurde nicht angepasst und ist heute viel zu tief. Seit 2020 steigen die Lastwagenzahlen wieder. Hinzu kommt der wachsende Ferienverkehr, der in den Sommermonaten von der Autobahn auf die Dörfer in den Transittälern ausweicht und die Lebensqualität der Bevölkerung massiv beeinträchtigt.
Die Aussichten sind düster, doch die Lösung liegt auf dem Tisch: Die ursprüngliche Verlagerungspolitik der Schweiz muss als Pilotprojekt für den gesamten Alpenraum verstanden werden. Jetzt ist der Moment, dieses Modell für den Güter- wie auch für den Personenverkehr alpenweit umzusetzen. Die Alpenländer müssen klare Ziele formulieren, den Verkehr dynamisch und fair bemauten und die Schieneninfrastruktur konsequent stärken. Denn wenn es den Alpenländern nicht gelingt, die Nachfrage zu lenken, werden die Alpen schon bald durch das wachsende Strassenangebot vom Verkehr überrollt.
Weiterführende Informationen im aktuellen CIPRA-Positionspapier «Verkehr und Mobilität in den Alpen».