Die Klimaseniorin

Pia Hollenstein findet, die Schweiz unternimmt zu wenig gegen steigende Gesundheitsrisiken durch den Klimawandel. Die 73-Jährige reichte deshalb gemeinsam mit 2’600 anderen Klimaseniorinnen eine Klage beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ein – mit Erfolg.

«Unser einziger Vereinszweck ist, die Schweiz zu verklagen», meint Pia Hollenstein und lächelt dabei verschmitzt. Wer mit acht Geschwistern auf einem Schweizer Bergbauernhof aufwächst, lernt zwangsläufig, sich durchzusetzen. Wenn nötig, vor Gericht. «Eine Geiss bindet man nicht an», meinte schon der Vater zur damals siebenjährigen Pia. Also hütete sie die Ziege, bevor sie sich auf den Weg in die Schule machte. Als ehemalige Grüne Nationalrätin, Pflegefachfrau und Berufsschullehrerin beschäftigt sich Pia Hollenstein schon ein Leben lang mit der Natur und mit Gesundheitsfragen – auch abseits ihrer Heimat. Drei Jahre lang leitete sie ein Health Center in Papua-Neuguinea. Danach sei ihr «immer bewusster geworden, wie wichtig Umweltschutz ist». Sie demonstrierte in Bern gegen das Waldsterben. 1991 eroberte sie den ersten Sitz für die Grünen im Nationalrat. Den Klimawandel erstmals wahrgenommen habe sie durch ihre Bergtouren auf den Viertausendern der Schweiz. Als sie Jahrzehnte später dieselben Berge besuchte, musste sie eine Stunde länger laufen, «weil einfach alles Geröll war und kein Schnee mehr.» Das brachte Pia zum Nachdenken. «Ich finde es schlimm, wenn wir für unser wertvolles Gletscherwasser nicht Sorge tragen.» 

Mit 73 könnte sie eigentlich ihren Ruhestand geniessen. Stattdessen fuhr sie am 29. März 2023 mit anderen Frauen des Vereins «KlimaSeniorinnen Schweiz» zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte nach Strassburg. Dort fand die öffentliche Anhörung ihrer Klage für das Recht auf Gesundheit statt, die sie zwei Jahre zuvor eingereicht hatten. In der Schweiz waren sie bei allen rechtlichen Instanzen abgeblitzt, bis hinauf zum Bundesverfassungsgericht. Studien zufolge sind ältere Frauen gesundheitlich stärker von Hitzewellen betroffen als etwa Männer. Also gründeten sich 2016 mit Unterstützung von Greenpeace die KlimaSeniorinnen – mit inzwischen rund 2'600 Klägerinnen. «Erstmals wird eine Menschenrechtsverletzung eingeklagt, nicht einfach nur der Umweltschutz», erklärt Pia Hollenstein. Die Klage erregt internationales Aufsehen, Pia gab schon dutzende Interviews – sogar dem australischen Radio und einer Journalistin aus den Arabischen Emiraten. Die hätten sich für «diese alten Frauen aus der Schweiz» interessiert. Pias humorvolle und entschlossene Art beeindruckt. Sie hält Ansprachen bei «Fridays for Future» und nimmt als Katholikin an kirchlichen Anlässen zum Klimaschutz teil. «So erreicht man einen wichtigen Teil der Bevölkerung, der noch viel mehr tun könnte als jetzt.» Sie werde öfter in protestantische als in katholische Gemeinden eingeladen. «Dort ist mehr Bewusstsein vorhanden.» Sie gehe viel in die Natur, das bringe ihr nicht nur körperlich etwas, sondern auch seelisch. «Das hilft mir, überhaupt noch die nötige Power zu haben.» Immer noch wandert und klettert sie, allerdings nicht mehr auf Viertausender – dafür sei sie zu langsam. «Ich bewege mich viel und habe eine positive Grundeinstellung zum Leben.» Das Durchhaltevermögen von Pia und den anderen KlimaSeniorinnen machte sich schlussendlich bezahlt: Am 9. April 2024 urteilte die Grosse Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, dass die Schweiz die Menschenrechte der älteren Frauen verletzt, weil das Land nicht das Nötige gegen die fortschreitende Klimaerwärmung tut.