Vom Schmelzen alter Gewissheiten
Ewiges Eis: Das war ein stehender Begriff in Geografie und Bergliteratur – für die Gletscher der Alpen genauso wie für die beiden Polargebiete der Erde, die Arktis und die Antarktis. Im Jahr 2025 zeigt sich unwiderruflich, dass wir nur noch von vergangenem und immer vergänglicherem Eis sprechen können. Damit einhergehend schmelzen auch politische Gewissheiten.
Für unsere Weltregion ist der mächtige Eisschild, der 1,6 Kilometer dick auf Grönland liegt, in mancher Hinsicht entscheidend. Er war bis 1990 circa 2,7 Millionen Gigatonnen schwer, eine Gigatonne entspricht dabei einer Milliarde Tonnen. Heute schmilzt dieser Eismantel rapide weg und hat gemäss Weltklimarat IPCC alleine in den Jahren 2006 bis 2015 rund 280 Gigatonnen jährlich verloren – das entspricht der Gesamtmasse aller Alpengletscher. Was das für uns Menschen bedeutet, wird vor allem geopolitisch diskutiert, da der sich unverhohlen imperialistisch gebärdende US-Präsident Anspruch auf Grönland erhebt. Was lockt, sind Bodenschätze und interkontinental günstig gelegene Raketenstandorte. Imperien, im Speziellen solche, die von autokratischem oder faschistischem Gedankengut beherrscht sind, betrachten Menschen als eine Masse, die es zu steuern gilt. Weshalb den auf politischer Eigenständigkeit beharrenden Einwohner:innen von Grönland und dem für solche Fragen zuständigen Arktischen Rat wenig Bedeutung beigemessen wird. In ihm sind alle Staaten und indigenen Völker im Arktischen Raum vertreten.
Diese Vorgänge mögen weit weg erscheinen, sind jedoch von Bedeutung für uns hier in den Alpen. Ist das Grönlandeis aufgrund der weiterhin zunehmenden Erderwärmung weg, steigt der Meeresspiegel weltweit mehr als sieben Meter an, allerdings erst in ferner Zukunft. Die Nordatlantikströmung hingegen, die uns in Europa mit Wärme aus der Karibik versorgt, könnte aufgrund der grönländischen Schmelzwasserzuflüsse bereits in den kommenden Jahrzehnten zum Stottern und später zum Erliegen kommen. Ihr Versiegen hätte einen dramatisch starken Kälteeinbruch in West- und Nordeuropa zur Folge. Wann sich das unwiderruflich anbahnt, wird zurzeit wissenschaftlich untersucht. Geopolitisch wiederum kann man den Arktischen Rat durchaus mit der Alpenkonvention vergleichen, da in beiden Gremien die dazugehörenden Staaten mit den als Beobachterinnen beteiligten NGOs nach einvernehmlichen Lösungen suchen. Wir machen es folglich richtig, wenn wir weiterhin global denken und lokal handeln – genauso geopolitisch wie auch klimatologisch. Die Alpen sind eine Bergkette, die im globalen Massstab zwar klein ist. Doch sie sind unser Zuhause, in einem gemeinsam und weit über die Alpen hinausreichenden Europa. Es wird immer anspruchsvoller, dieses Zusammenleben einvernehmlich und partizipativ zu gestalten. Doch genau dafür sind wir Alpenbewohner:innen verantwortlich. Ziehen sich die Alpengletscher zurück, entstehen dort neue Flächen und damit neue Begehrlichkeiten: Etwa für den Bau neuer Staumauern und Stauseen zur Energiegewinnung aus Wasserkraft oder für den Ausbau von Gletscherskigebieten. Doch diese Gebiete sind auch ein wertvoller Lebens- und Rückzugsraum für die Natur.
Die Jahre voll ökonomisch saturierter Gewissheiten der europäischen Nachkriegszeit des 20. Jahrhunderts sind definitiv vorüber. Das Klima und der politische Diskurs laufen uns bedrohlich aus dem Ruder, ökologisch genauso wie demokratisch. Das 21. Jahrhundert wird unangenehm herausfordernd. Handeln oder träumen wir nun? Wir bei CIPRA haben uns seit unserer Gründung vor mehr als 70 Jahren für beides entschieden. Wir glauben an die Zukunft einer Gesellschaft, die sich den natürlichen Gegebenheiten anpasst und der einmaligen, alpinen Lebensvielfalt Sorge trägt. Wir gestalten die grenzüberschreitende Kooperation im Rahmen unserer umsetzungsstarken Projekte und der kritischen Begleitung der Alpenkonvention und anderer grenzüberschreitender Abkommen mit. Und wir handeln, tagtäglich. Denn ich bin mir auch persönlich sicher: Von nun an gilt es erst recht, wesentlich zu sein.
Kaspar Schuler
Geschäftsführer CIPRA International