Standpunkt: Europawahlen 2024: Wieso ein Schweizer gerne mitwählen würde
Die Referendumsdemokratie der Schweiz hat ihre ganz eigenen Tücken, wenn es um Umwelt- und Klimapolitik geht. Sie bräuchte ein übergeordnetes Korrektiv wie ihre Nachbarländer, meint Kaspar Schuler – als Schweizer und Geschäftsführer von CIPRA International.
Soll ich mich als Schweizer zu den europäischen Parlamentswahlen äussern? Wo ich doch in der besten aller Demokratien lebe, wie man es mir oft nahelegt. Jedes neu im Parlament beschlossene Gesetz kann hier durch 50'000 beglaubigte Unterschriften über ein Referendum in Frage gestellt werden. Schauen wir also genauer hin: Bis 2022 wurden von 207 Schweizer Referenden 120 angenommen und 87 verworfen. Unter so viel Negierung der vorgängigen Parlamentsarbeit waren auch sinnvolle Anliegen. Ein griffiges, auch unangenehme Massnahmen enthaltendes Klimaschutzgesetz ging 2021 mit 52% Nein-Stimmen verloren. Erst eine rundum abgeschwächte Version wurde angenommen. Nun sollen Subventionen einen freiwillig zu beschreitenden Weg aus der Klimakrise weisen.
Was zeigt, dass auch wir hier manipulierbar, in der Mehrheit lieber verharrend und selten fortschrittlich sind. In einem zentralen Punkt allerdings habt Ihr in der Europäischen Union uns Wesentliches voraus: In die Autokratie abgleitende Mitgliedsstaaten werden ermahnt und nötigenfalls in die demokratische Pflicht genommen. Die Schweiz hingegen kennt bis heute keinen Verfassungsgerichtshof, was parlamentarischer Willkür die Türen öffnet. Das erklärt, wieso Ende 2023 das Parlament über ein neues Stromgesetz die umfassende Deregulierung des Natur- und Gewässerschutzes sowie der Raumplanung beinahe unwidersprochen beschliessen konnte. Die neue Öko-Logik heisst: Erneuerbare Stromproduktion erhält weitgehend Vorrang vor Natur- und Landschaftsschutz. Diese gravierende Umorientierung kann in Ermangelung eines Verfassungsgerichtshofes nicht gerichtlich überprüft werden. Es blieb ein paar unentwegt Naturverbundenen nur der Griff zum Referendum. Doch ist es sinnvoll, in solch einer anspruchsvollen Frage die Bevölkerung mit JA oder NEIN final entscheiden zu lassen? Wäre eine juristisch versierte Austarierung der Anliegen nicht passender?
Zum Glück gibt es einen anderen, nicht mit der EU doch dem völkerverbindenden Geist Europas noch stärker verbundenen Gerichtshof, den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Er hat kürzlich in der Frage klimapolitischer Gerechtigkeit Recht gesprochen. Dank ihm sind mehr als zweieinhalbtausend unbeugsame Schweizer Klimaseniorinnen mit ihrer Klage für mehr Klimaschutz auf Gehör gestossen. Die Schweiz hat für ihr künftiges Überleben mehr zu tun. Der aufrechte Gang dieser Frauen und ihre Anrufung einer überdachenden Rechtsinstanz stärkt jetzt uns alle, über die Schweiz hinaus. Klimaschutz ist ein Menschenrecht. Das erscheint mir so wegweisend, dass wir auch den Erhalt der Biodiversität - und damit unserer eigenen Lebensgrundlagen - im Geist der Menschenrechte angehen sollten. Über nationale Eitelkeiten, nationalistische Ruchlosigkeiten und Alpenkämme hinweg. Schliesslich atmet auch das friedfertigste aller mir bekannten, internationalen Abkommen diesen Geist der Zusammenarbeit: die Alpenkonvention.
Ihr seht, mir liegen die verbindenden Wesensteile Europas sehr am Herzen. Sie bilden unser gemeinsames Zuhause, mit allem was drin wuchert und wuselt. Weil ich als Schweizer bis heute mich mit Euch treffen und den Alpenschutz weiterentwickeln, nicht aber politisch an Europa teilhaben kann, hier meine Bitte: Geht wählen! Mit dem Willen zu einer gemeinsam gelebten, nach-nationalistischen, einer streitbar versöhnlichen Demokratie.
Und – fast hätte ich’s vergessen: Sollten wir in der Schweiz es eines Tages schaffen, mit Euch zusammenzuspannen, statt sich unter uns in Referenden weiter zu zerraufen, nehmt uns doch bitte auf, gerne herzlich lachend.