«Neues Leben kann sich auf komplexe und widersprüchliche Weise ansiedeln»

Wie entwickelt sich neues Leben infolge des Gletscherrückgangs? Mit dieser Frage beschäftigt sich der Botaniker und Spezialist für Gletschervorfelder Cédric Dentant bei seiner Arbeit im französischen Écrins Nationalpark.

Herr Dentant, was sind Ihre Arbeitsschwerpunkte?

Cédric Dentant ist Botaniker und Mitglied des wissenschaftlichen Dienstes im Nationalpark Écrins

Ich erforsche die Vegetation in hochalpinen Lagen, erstelle Pläne zur Erhaltung von Arten und biete Schulungen für Landwirt:innen, Fachleute aus dem Hochgebirge und Mitarbeitende von Nationalparks an. Mit wissenschaftlichen Untersuchungen überwachen wir seit sieben Jahren das Gletschervorfeld des Glacier Blanc. Wir untersuchen dort die Ansiedlung von Pflanzengemeinschaften und Entomofauna wie Insekten und Spinnen.

Was ist ein Gletschervorfeld und was sind seine Besonderheiten?

Ein Gletschervorfeld ist ein mehr oder weniger frisch entgletschertes Gebiet, bei dem der Rückzug des Gletschers vor allem durch historische Bilddokumente zurückverfolgt werden kann. Es steht noch unter seinem Einfluss: Einstürzende Seracs, schmelzendes Eis, abfliessendes Wasser. Die Fläche ist relativ instabil, sie besteht aus verdichtetem Sand und grossen, eingebetteten Felsen. Es ist ein sehr einzigartiger Lebensraum, der im Gegensatz zu Gletschern Leben beherbergen kann, mit einer manchmal sehr starken Verjüngungsdynamik. Jederzeit können grosse Ereignisse eine ganze Gemeinschaft, die sich angesiedelt hat, aus den Angeln heben. Auf Gletschervorfeldern, die keine drastische Erosion mehr erfahren, können sich Böden bilden und Sträucher ansiedeln. Umgekehrt bietet ein Gletschervorfeld, das an Stabilität gewinnt, nicht immer die Voraussetzungen für eine Besiedlung. Es handelt sich um heterogene Orte mit einer wenig vorhersehbaren Dynamik.

Welche Dinge sind Ihnen während der Untersuchungen besonders aufgefallen? 

Neues Leben kann sich auf äusserst komplexe und widersprüchlich scheinende Weise ansiedeln – das ist nicht immer mit der Vegetationsdynamik verbunden. Spinnen sind zum Beispiel Fleischfresser und daher auf Insekten angewiesen, die sie verzehren. Dennoch werden sie in sehr grossen Höhen in vegetationslosen Gebieten nachgewiesen. Sie ernähren sich dann von Insekten, die der Wind mit sich bringt. Das Fehlen von Vegetation bedeutet nicht das Fehlen von Leben.

Können Gletschervorfelder in Zeiten der globalen Erwärmung Arten als Zufluchtsorte dienen?

Das sind keine Gebiete, in denen Arten unter Bedingungen Zuflucht finden, die in tieferen Lagen verschwinden. Im Gegenteil, es sind Lebensräume, die jahrhundertelang von Eismassen besetzt waren und nun von neuen Lebewesen besiedelt werden können. Das bezeichnen wir auch als Opportunitätseffekt. Arten aus tieferen Lagen wandern nach oben und erweitern die von ihnen besiedelten Flächen. Die umliegenden Arten aus höheren Lagen verteilen ihre Samen auf dem neu verfügbaren Raum. Es kommt zu einem eher untypischen Zusammentreffen von Pflanzen aus höheren Lagen und Pflanzen aus dem Tal. Was wir an den Gletschervorfeldern beobachten, ist eine Dynamik, die sich auch verändern kann. Nehmen wir als Beispiel die Laggers Weide, die in einer stabilen Umgebung recht dichte Büsche bildet. Wenn sie sich vermehrt, schafft sie Lebensbedingungen für neue Arten, denn ihren Schatten und die Feuchtigkeit vertragen Pflanzen aus höheren Lagen nicht. Der Nationalpark Écrins veröffentlicht 2025 eine Broschüre zu Gletschervorfeldern.


Interview: Delphine Ségalen 

CIPRA Frankreich