Gletscher als Spiegel der Gesellschaft
Die Kulturgeschichte der Gletscher ist eine wechselvolle. Ihre physische Geschichte als Klimaindikatoren ist im Grossen und Ganzen mit einem starken Wachstum ab dem 16. Jahrhundert und einem stetigen Rückgang ab 1850 schnell zusammengefasst. Die Bedeutung der Eisriesen für uns Menschen hat sich jedoch allein in diesen vier Jahrhunderten mehrfach grundlegend verändert.
Fernab der Agglomerationen gelegen, spielten die (während des mittelalterlichen Klimaoptimums ohnehin recht kleinen) Alpengletscher bis vor 500 Jahren kaum eine Rolle für uns Menschen. Relevant wurden sie, als sie im Zuge der einsetzenden sogenannten «Kleinen Eiszeit» zu wachsen begannen und sich da und dort über die wertvollen Hochweiden schoben. Erzählmotive nach dem Vorbild der «Blüemlisalpsage» oder der Sage von der «Übergossenen Alm» sind wohl ein kulturelles Erbe des menschlichen Blicks auf die damals zunehmend relevanter werdenden Gletscher. Immer weiter schob sich ihr Eis vor und staute mitunter als Seitengletscher die Bäche der Hochtäler auf. Die Folge waren in Sulden/I, im Ötztal/A oder auch Mauvoisin/CH Gletscherseeausbrüche und Überflutungen von Kulturflächen und Siedlungen. Als Naturgefahr waren Gletscher nun plötzlich relevant geworden – für Bauernfamilien, für die Obrigkeit und für Techniker, die mit der Untersuchung des Phänomens beauftragt wurden.
Erste Bilder alpiner «Eisberge»
In Innsbruck/A machte sich im Auftrag der Tiroler Landesregierung 1601 der Bauschreiber Abraham Jäger auf ins Ötztal, um hinter Vent den Eisdamm des Vernagtferners zu dokumentieren. Ergebnis dieser Untersuchung ist die älteste Darstellung eines Alpengletschers. Doch es sollten Lösungen für das Problem der Gletscherseeausbrüche gefunden werden, was trotz aufgestellten Wachen, in Eis gehackten Wasserableitungen und einem Höhersetzen der Brücken im Ötztal nicht gelang. In der Neuzeit prägte also ein vor allem problemorientierter Blick unsere Wahrnehmung der Gletscher. Mit der Aufklärung setzte die Blütezeit der Wissenschaften ein. Auch siewidmeten sich dem Naturphänomen Gletscher: 1771 verfasste Joseph Walcher, Jesuit und Professor für Mechanik und Hydraulik, das Werk «Von den Eisbergen in Tyrol». Die Disziplin der Glaziologie wurde begründet. Zugleich konnten für die Probleme der Bauern und Hirten immer noch keine Lösungen gefunden werden. Die Weiden schrumpften, die Talböden wurden regelmässig geflutet, das Klima verschlechterte sich. In manchen Gemeinden wusste man sich nicht anders zu helfen, als mittels Busshandlungen wie Wallfahrten, Bittprozessionen oder speziell verlobten Feiertagen den Zorn des etwaigen strafenden Gottes zu besänftigen und um seine Hilfe zu bitten.
Sehnsucht nach dem Hochgebirge
Im Zeitalter der Romantik um 1800 entwickelte sich in den urbanen Zentren, in bürgerlichen und aristokratischen Häusern, ein neuer Blick auf Gletscher. Landschaft wurde nun als Gegenwelt zur aufkommenden Industrialisierung und Moderne sakralisiert, Hochgebirge als Orte des «Erhabenen», der beinah religiösen Andacht neu interpretiert. Der Tourismus und Alpinismus kamen auf. Wenngleich zunächst noch elitären Kreisen vorbehalten, waren damit die Weichen für die Entwicklung des alpinen Raumes in den kommenden zwei Jahrhunderten gestellt: Viele Alpentäler wurden zur Destination eines Natur- und Alpinsport-Tourismus, der einerseits ländliche Idylle im Tal und andererseits dramatische Gletscherlandschaften in der Höhe suchte – und zugleich schuf. Ausgehend von ortsfremden Menschen veränderte sich nun der Blick auf die Gletscher massgeblich: Gletscherland schaften wurden zu Orten der Sehnsucht. Aussichtspunkte, garniert mit Pavillons und Bänken, Panoramawege und später -strassen entstanden in den Alpentälern und zogen «Sommerfrischler» in Scharen an. Gletscher wurden auch zu einem attraktiven Ziel für Kunstschaffende, ihre in Öl auf Leinwand festgehaltenen dramatischen Hochgebirgslandschaften fanden bald den Weg in wohlhabende Häuser in ganz Europa. Der im Grunde romantische Blick auf Gebirge und Gletscher ist bis heute in unserer Gesellschaft ungebrochen. Vieles hat sich im 20. Jahrhundert geändert: Urlaub in den Bergen wurde für Arbeiterfamilien und Mittelstand leistbar, die Fotografie löste die Landschaftsmalerei weitgehend ab, und seit dem Gletscherhöchststand um 1850 begleitet ein allgemeines Wehklagen die schmelzenden Eismassen. Zugleich wurde der Blick auf die Alpengletscher sehnsüchtiger denn je – und sowohl Bildaufbau als auch Bildsprache haben sich seit den Malern der deutschen Romantik bis zu den heute millionenfach produzierten Instagram-Fotos kaum verändert.
Hoffen und Bangen
Vor dem Hintergrund des rasanten Klimawandels erreicht der sehnsüchtige Blick auf Gletscher eine neue Dimension: Hochalpine Schutzhütten werden gestürmt, Gletschertouren sind ausgebucht, und erneut wendet sich die bildende Künstlerschaft verstärkt den Gletschern zu. Heute steht jedoch nicht mehr die dramatische Schönheit der einstigen Eisriesen, sondern ihr dramatischer Schwund im Fokus der Kunst – und mit ihm die Trauer um Verlust, das Bangen vor bevorstehenden Veränderungen und die Hoffnung auf Schutz. Einmal mehr lässt sich der Blick auf Gletscher als Spiegel unserer Gesellschaft lesen.