Ein Bergdorf erfindet sich neu
Ein wissenschaftliches Zentrum mitten in der Natur; ein Realweltlabor, in dem die Transformation zur Nachhaltigkeit gelebt wird. Mit dieser Vision machte sich Nachhaltigkeitswissenschaftler Tobias Luthe mit seinem Team auf die Suche nach einem geeigneten Standort für ein solches Institut. In Ostana wurden sie fündig.
So wie in vielen Alpentälern wurde auch im Valle Po in Italien die Abwanderung zum Problem: Die Menschen gingen für Studium und Arbeit in die Städte, Dorfläden und Betriebe schlossen, zurück blieben vor allem die Älteren. Um 1985 lebten faktisch nur noch fünf Menschen in Ostana, einem der Bergdörfer im piemontesischen Quelltal des Flusses Po, zu Füssen des 3’842 Meter hohen Berges Monte Viso. Doch Krisen bieten auch Chancen, sie sind der Nährboden für soziale Innovationen und Veränderung. Bürgermeister Giacomo Lombardo versteht es als Teil seiner Aufgabe, die Gemeinschaft am Leben zu erhalten: «Wir haben eine moralische Verpflichtung, neue Vorschläge zu prüfen, die über traditionelle Modelle hinausgehen.» Die Gemeindeverwaltung setzt alles daran, soziale und wirtschaftliche Rahmenbedingungen zu schaffen, um den Menschen in Ostana eine Zukunft zu bieten, die auf den drei Säulen Natur, Tradition und Wissen der Menschen basiert. Inzwischen wurden viele der einst verfallenen Steinhäuser mit viel Gefühl für das Ortsbild renoviert. Es gibt wieder eine Post, einen Gemeindesaal, eine Unterkunft mit Restaurant und ein Kulturzentrum. Die Eröffnung eines mit Geothermie beheizten Wellness-Centers steht kurz bevor. Heute leben wieder rund 50 Menschen im Dorf und es entstehen weitere Initiativen durch «New Highlanders», die mit unternehmerischem Potenzial zurück in die Berge ziehen.
Das Alte mit dem Neuen verbinden
Dieses Engagement ist auch Tobias Luthe nicht entgangen. Der Professor für Nachhaltigkeitswissenschaft der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Chur und Dozent für Systemisches Design an der ETH Zürich, Schweiz, hat eine Vision: Er möchte ein Realweltlabor für Nachhaltigkeits-Transformation und systemisches Design schaffen; einen Ort, an dem Wissenschaft auf Umwelt trifft, wo Nachhaltigkeit gelebt wird und wo soziale Innovationen wachsen können. Für den Forscher war ausschlaggebend, dass die Transformation in Ostana bereits im Gange war. Seine Vision passte gut in dieses Umfeld. Es gab genug Raum – geografisch und für neue Ideen. Mit seinem Ansinnen fand das Team bei Bürgermeister und Bevölkerung Anklang. Durch den Kauf eines verlassenen Gehöfts wurde 2015 der Grundstein für das MonViso Institut gelegt.
Die lokalen Traditionen respektieren und gleichzeitig neue Technologien und Lebensstile einbringen, dies sind laut Luthe zentrale Herausforderungen. Einerseits das Institut als wissenschaftlich anerkanntes Zentrum etablieren, andererseits die Menschen vor Ort für das Projekt begeistern. «Diese Interaktion ist der schwierigs te und gleichzeitig spannendste Prozess.» Inzwischen wurde das Gehöft erschlossen, die Renovierung eines ersten Gebäudes nach den Plänen des energie- und wasserautarken Passivhauses genehmigt und eine Arena als Interaktionsort erschaffen. Später soll der Campus bis zu 20 Forschende beherbergen.
Von Ökosystemen lernen
Wie funktioniert das System Garten? Welche Pflanzen gibt es? Aus welcher Richtung kommt der Wind? Wo gibt es Schatten, wo Sonne? Solche Fragen beschäftigen Anna Rodewald. Die Textilingenieurin aus Deutschland betreibt am Institut einen Versuchsgarten nach den Prinzipien der Permakultur. Erfolg und Ertrag basieren auf nachhaltigen und dauerhaften Kreisläufen. Ein Zentner Kartoffeln, eine blühende Blumenwiese, Industriehanf, ein Spielfeld für Kinder – Permakultur ist im gärtnerischen Kontext entstanden, die ganzheitliche Denkweise lässt sich aber auch auf soziale Organisationen übertragen. «Von der Natur kann man viel lernen.»
Ein weiteres Projekt des MonViso Instituts verbindet Studium mit der Praxis. Masterstudierende der Universität Lugano in der Südschweiz untersuchten, was die Lebensqualität in Bergdörfern ausmacht. Unter dem Stichwort «Alpiner Urbanismus» versuchen die Forschenden des Instituts, eine neue Mischung aus urbanen Elementen wie sozialer Interaktion, Service, Konnektivität und Erreichbarkeit oder alpiner Lebensform zu finden. Mitgründerin Melanie Rottmann lebt dieses neue Unternehmertum in den Bergen vor – sie setzt auf dem Gelände ein als Labyrinth erlebbares lokales Hanfsystem um, u. a. für die Isolation einiger der alten Gebäude, aber auch zur Bodenverbesserung, Fasergewinnung, für Kosmetik und zur Ernährung. Weitere Projekte sind in Planung, das Grobziel ist formuliert, aber es gibt noch genug Spielraum für neue Ansätze. Giacomo Lombardo ist überzeugt: «Um solche Prozesse anzustossen, brauche es vor allem Ideen und Menschen, die sie voranbringen.»
www.comune.ostana.cn.it (it, en)
www.monviso-institute.org (en)