Gibt es Zufriedenheit, Auskommen und Lebensqualität ohne Wachstum? Das Wachstumsmodell hat ausgedient

Immer mehr, immer besser wird die Welt, solange nur der Wohlstand steigt. Was dieser kostet, fragt niemand – bis das System zusammenkracht. Einen Vorgeschmack lieferte die Wirtschaftskrise. Teile der Alpen gehören zu den Verlierern. Die Alpen als Ganzes könnten aber letztlich zu den Gewinnern gehören, wenn sie die Herausforderung annehmen.

Dem Streben nach steigendem Wohlstand kommt, zumindest in unserem Kulturkreis, grosse Bedeutung zu. Vielleicht ist es gar Teil der menschlichen Natur. Jedenfalls entwickelte es sich von einem persönlichen Anliegen zunehmend zu einem politischen Postulat: Der moderne Staat liess sich in die Pflicht nehmen, für wachsenden Wohlstand zu sorgen. Aus einem persönlichen Wunsch wurde de facto ein Recht.
Seit 1950 wurde Wachstum zu einem zentralen wirtschaftspolitischen Ziel, das wachsende Sozialprodukt zur magischen Kennziffer. Mit guten Gründen: Nach dem zweiten Weltkrieg ging es darum, der Mangelwirtschaft zu entkommen und Europa zu befrieden. Wir folgten dabei – und tun dies immer noch – einem Wohlstandsmodell, das steigende ökologische Belastungen insbesondere im globalen Massstab und damit zusammenhängend zunehmende soziale, politische und ökonomische Probleme in Kauf nimmt. Tatsächlich ist der Wohlstand der industrialisierten Welt auf billiger Natur aufgebaut und auf der Ohnmacht und Leidensfähigkeit der Menschen in der so genannten Dritten Welt.
Ein besonders problematischer Aspekt dieses Wohlstandmodells ist konkret die «Politik der billigen Zentralressource». Das Rezept lautet: Wirtschaftliches Wachstum durch Verbilligung von Produktionsfaktoren. So unternimmt der moderne Staat fast alles, um eine möglichst ungehinderte Naturbeanspruchung zu gewährleisten, in Form von billiger Energie, billigen Rohstoffen, billiger Entsorgung, billiger Mobilität, grosszügiger Raumerschliessung und billigen technologischen Grossrisiken. Das Instrumentarium zur Durchsetzung ist mannigfaltig. Indirekte und direkte Verbilligungen wie Steuerbefreiungen und -vergünstigungen, Subventionen oder Haftungsbeschränkungen sind nur die Spitze des Eisbergs. Negative externe Effekte der Wohlstandsmehrung wie Umweltzerstörung oder soziale Ungerechtigkeit werden schlicht ausser Acht gelassen. Aktiv im Dienste des Zugangs zu billigen Ressourcen stehen hingegen die Diplomatie und zunehmend auch militärische Interventionen.
Neben dem unmittelbaren Wachstumseffekt wirken diese Praktiken protektionistisch. Sie verbilligen die einheimische Produktion im Vergleich zur Produktion insbesondere in Entwicklungsländern. Neben dieser subtilen, aber sehr wirkungsvollen modernen Form des Protektionismus werden nach wie vor – und in Krisenzeiten wie heute wiederum vermehrt – rigide Abschottungsmanöver durchgeführt wie Importbeschränkungen, Importzölle, Exportsubventionen oder subventionierte Exportrisiko- und Investitionsgarantien.

Demokratie und Marktwirtschaft in der Defensive
Kein Wunder also, dass die ökologischen Gefährdungen und die ökonomischen Unterschiede im globalen Kontext weiterhin zunehmen – und dies allen gut gemeinten, nachträglich korrigierenden oder kompensierenden Politiken wie Umweltpolitik, Entwicklungspolitik oder Sozialpolitik zum Trotz. Es wird eng auf unserem Planeten! Und es stellt sich die Frage: Können all diese Knappheitsprobleme konstruktiv und friedlich gelöst werden oder entladen sie sich zunehmend in Konflikten?
Ausgerechnet jetzt, wo Demokratie und Marktwirtschaft als Mechanismen der Innovation und Problemlösung besonders gefragt sind, geraten sie in die Defensive. Das demokratisch-marktwirtschaftliche Modell wird durch das autoritär-marktwirtschaftliche Modell herausgefordert, wie es unter anderem China vorexerziert. Gleichzeitig verlieren gemäss neueren Umfragen die Demokratie und ihre Institutionen dramatisch an Glaubwürdigkeit und Zustimmung in der Bevölkerung. Gleiches gilt für die Marktwirtschaft angesichts der Missstände auf den Finanzmärkten und der dadurch ausgelösten Wirtschaftskrise. Soweit kurz skizziert unser heutiges Wohlstands- und Wachstumsmodell. Keine Frage: Es ist stark revisionsbedürftig.

Welche Chancen für die Alpen?
Inwiefern sind nun aber die Alpen betroffen und herausgefordert durch die Wachstumsthematik? Offensichtlich gibt es keine einfache Antwort. Es gilt zu differenzieren. Zweifellos haben gewisse Orte und Regionen in den Alpen vom herkömmlichen Wachstum profitiert. Sie leiden an der gegenwärtigen Wirtschaftskrise – und mit ihnen im besonderen Masse jene (Rand-)Regionen, die schon bisher Opfer waren; Opfer des Wachstums nämlich. Als sensible Ökosysteme indes sind die Alpen insgesamt Opfer der Wachstumsspirale. Sie werden vom ökologischen Wandel besonders tangiert – mit entsprechenden Folgen für ihre Wirtschaft und ihr gesellschaftliches Leben.
Es wird zweierlei deutlich: Erstens gibt es nicht den Königsweg zum Glück in den Alpen im Sinne von Zufriedenheit, Auskommen und Lebensqualität. Zweitens genügen kleine Korrekturen und Modifikationen des Bisherigen nicht. Es geht um tiefgreifende Umorientierungen. Auf Grund ihrer Topographie, ihrer weitläufigen Naturräume und der teils beschränkten Potenziale bieten sich die Alpen geradezu an als Modellregion für neue Lebenskonzepte. Wird die Krise als Chance zum Umbau genutzt?